von Matthias Judt

Am 19. Juni 1953 erlag um 2:12 Uhr Erich Kunze seinen schweren Kopfverletzungen, die ihm wenige Stunden zuvor, am späten Abend des 18. Juni, durch die Schüsse eines sowjetischen Soldaten zugefügt worden waren.

Der Referatsleiter der Abteilung Pass- und Meldewesen in der Bezirksverwaltung Leipzig der Deutschen Volkspolizei befand sich zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit drei weiteren Volkspolizisten auf Streifenfahrt in Richtung Delitzsch. Als sie in Richtung des verregneten Gohlis fuhren, dem Stadtteil, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich auch die Sowjetische Stadtkommandantur befand, hörten die vier Volkspolizisten einen Schuss. Der Fahrer des F9-Kübelwagens gab später zu Protokoll: „Noch bevor der Wagen hielt, sah ich in meinem Scheinwerfer einen sowjetischen Soldaten auf der Fahrbahn vor mir auftauchen. Er stand mit gespreizten Beinen und die MPi im Anschlag da. Ich beugte mich nach links aus dem noch fahrenden Wagen heraus, um besser sehen zu können.“ (1) In diesem Augenblick eröffnete der Soldat das Feuer auf das Fahrzeug. Zwei Kugeln schlugen durch die Frontscheibe auf Kopfhöhe des Fahrers ein und trafen den hinter ihm sitzenden Erich Kunze.

Den Volkspolizisten wurde gestattet umzukehren. Sie steuerten zunächst ihre Dienststelle an, brachten Kunze dann ins Polizeikrankenhaus in Wiederitzsch, von wo er wegen seiner schweren Verletzungen noch in die Neurologische Abteilung der Universitätsklinik verlegt wurde. Dort konnten die Ärzte Erich Kunze jedoch nicht mehr helfen und nur noch seinen Tod feststellen.

Wie war es zu dem tragischen Geschehen gekommen? In Reaktion auf den Volksaufstand am 17. Juni 1953, bei denen es im Leipziger Zentrum zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen war, hatte der sowjetische Stadtkommandant eine Ausgangssperre erlassen, die auch vorsah, dass ab 21 Uhr kein Straßenverkehr mehr erlaubt sei. Am 18. Juni waren die vier Volkspolizisten jedoch ab 22 Uhr auf ihre Streifenfahrt gegangen. Ihr Ziel war es, auf Gaststätten und deren Gäste, unter anderem in Gohlis, zu achten. Der sowjetische Soldat war jedoch offensichtlich davon ausgegangen, dass gegen die Bestimmungen der Ausgangssperre verstoßen wurde, indem der PKW mit den Volkspolizisten während der Ausgangssperre unterwegs war.

Nur wenige Stunden nach Kunzes Tod schloss die Leipziger Kriminalpolizei ihre Ermittlungsakte zu dem Fall. Die Staatsanwaltschaft ordnete die Einäscherung der Leiche an. Die Witwe des Erschossenen und ihre fünf gemeinsamen Kinder sollten sogar erst fast 40 Jahre später erfahren, durch welche Umstände ihr Ehemann und Vater tatsächlich ums Leben gekommen war.

Zwar war Johanna Kunze von Beginn an misstrauisch ob der Geschichte, die ihr am 19. Juni 1953 erzählt wurde. Erich Kunze habe „im Kampf gegen die Putschisten“ (des 17. Juni 1953) sein Leben geopfert. (2) Misstrauisch machte sie auch der – wie sich herausstellte – propagandistische Missbrauch des Falls. Kunze wurde bei der Beisetzung seiner Urne am 23. Juni 1953 in seinem ursprünglichen Heimatort Adorf mit einem Salutschießen und einer Ehrenwache der Volkspolizei geehrt. Der Grabstein erhielt die Inschrift: „Er starb für die Einheit Deutschlands“. Posthum war Kunze zudem noch zum Oberrat befördert worden. Erst nach der Wende erfuhren Kunzes Angehörige, dass sein „Märtyrertod“ eine Lügengeschichte war. (3)

(1) BDVP Leipzig, Abt. K, AK/MUK, „Vernehmung eines Zeugen“ vom 19.6.1953, in: Sächs-StAL, BDVP 2274, unpag.; Darstellung nach BDVP Leipzig, Abt. K, AK/MUK, Leichensache Kunze, in: SächsStAL, BDVP 2274, Bl. 1, zitiert nach: http://www.17juni53.de/tote/kunze.html (veröffentlicht 2004), aufgerufen am 6. Mai 2017.
(2) Heidi Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999, S. 182.
(3) Märtyrertod war Geschichtsfälschung, in: Leipziger Volkszeitung vom 5. Januar 1995, darauf verwiesen in: http://www.17juni53.de/tote/kunze.html (veröffentlicht 2004), aufgerufen am 6. Mai 2017.